Anatomie in West und Ost

Wie ist der menschliche Körper beschaffen

Die Anatomie, also die Lehre vom Aufbau der Organismen, bildet die Grundlage der Medizin. Dies gilt sowohl für die westliche Medizin als auch für die chinesische Medizin. Aufgrund der unterschiedlichen soziokulturellen Gegebenheiten in West und Ost entwickelten sich aus der Betrachtung des Menschen allerdings ganz unterschiedliche Sichtweisen. Im Folgenden sollen diese Unterschiede aufgezeigt und beschrieben werden.

Anatomie als Ursprung der westlichen Medizin

Die Grundlagen der sogenannten westlichen Medizin liegen in der Molekularbiologie. Hier wird davon ausgegangen, dass Krankheit gänzlich durch eine Untersuchung des Körpers und seiner stofflichen Strukturen bestimmt werden kann. Dabei haben beispielsweise soziale und psychologische Faktoren keinen Stellenwert, da sie im Labor nicht greifbar sind. Somit ist die Trennung zwischen Körper und Geist eine immanente Grundlage der westlichen Medizin. Als wissenschaftliche Disziplin bedient sich die Medizin der Sprache der Chemie und Physik, um Gesundheit und Krankheit beschreiben zu können. Ferner ist sie reduktionistisch in dem Sinne, dass die Ursachen für Erkrankungen sich auf eine Ursache im Bereich der Molekularbiologie zurückführen lassen.

Das dieser Medizin zugrundliegende Weltbild geht dabei ca. 500 Jahre zurück und ist wesentlich durch den französischen Philosophen René Descartes (1595–1650) bestimmt. Dieser sah den menschlichen Körper im Wesentlichen als Maschine an, welche getrennt von einer Seele zu betrachten ist. Aus Angst vor der Inquisition veröffentlichte er seine diesbezüglichen Schriften allerdings nicht. Sie wurden daher erst nach seinem Tod veröffentlicht und prägten seitdem das Menschenbild der Medizin. Einen weiteren Einfluss auf die medizinische Entwicklung hatte das Paradigma der christlichen Religion, nach welchen der Körper ein unvollkommenes Behältnis für die Seele darstellte. Daher erlaubte die Kirche das Studium des menschlichen Körpers durch Sezierungen. Die Seele als solches, welcher Emotionen und Bewusstsein zugeordnet wurden, blieben ja dadurch unberührt und in der Deutungshoheit der Kirche. Insofern begünstigten die kulturellen Umstände in Europa ganz wesentlich die heutige westliche Medizin.

Das Christentum hatte einen großen Einfluss auf die europäische Wissenschaft.

Die chinesische Medizin und die Anatomie

In China hatte der philosophische Konfuzianismus enorme gesellschaftliche Auswirkung. Dazu zählte beispielsweise, dass der Körper nach dem Tod nicht verletzt werden durfte. Daher waren Sezierungen während großer Zeiträume in China verboten. Das heißt allerdings nicht, dass in China keine anatomischen Untersuchungen durchgeführt wurden. Der älteste anatomische Atlas der Welt als Teil der Mawangdui Texte stammt aus China und wurde zwischen 300-200 v. Chr erstellt. Weitere Hinweise auf anatomische Untersuchungen finden sich im Gelben Kaiser der Inneren Medizin (Huangdi Neijing, ca. 80 v. Chr.). Hier werden in verschiedenen Kapiteln die inneren Organe vermessen und ausführlich beschrieben.

Auch aus späteren Dynastien (Yuan und Song) sind anatomische Lehrbücher bekannt. Ebenso stammt das erste forensische Lehrwerk Aufzeichnungen zur Tilgung von Ungerechtigkeit (Xi Yuan Ji Lu, 1247) aus China und wurde durch den Arzt Song Ci geschrieben. In diesem sind ausführliche Beschreibung zur forensischen Analyse von Wunden, Verletzungen und Kadavern enthalten. Die anatomischen Beschreibungen in China wurden dabei insbesondere während Kriegen und bei der Folterung von Räubern und Verbrechern erlangt. Ein eindrückliches Beispiel solcher Beobachtungen findet sich in Wang Qing Ren Buch Korrekturen der Fehler im Wald der Medizin (Yi Lin Gai Cuo, 1830). In diesem beschreibt Wang, wie er viele Kadaver auf einem Friedhof untersuchte und einigen Hinrichtungen beiwohnte.

Grundsätzlich war den Ärzten im antiken China allerdings das Studium eines lebenden Organismus wichtiger als die Untersuchung von Leichen. Ihr Fokus lag daher auf den Körperfunktionen beim Lebenden und inwieweit diese Abweichungen bei Erkrankungen zeigten. Es ging dabei um das Herausfinden eines typischen Krankheitsmusters, für welche eine Behandlung bekannt war. Dies mündete letztlich zwei Systemen in der chinesischen Medizin. Zum einen in der sogenannten Zang Xiang Theorie, welche sich mit der Entsprechung der inneren Organe an der Körperoberfläche beschäftigte. Sie ist letztlich auch Grundlage für die Pulsdiagnose und die Zungendiagnose. Der Körper wurde dabei nicht als getrennt von dem psychoemotionalen Erleben betrachtet, da bei Emotionen der Körper immer mitreagiert. Zum anderen in der sogenannten Musteranalyse, welche verschiedene Krankheitszeichen mit einem der inneren Organe verknüpft und so eine ganzheitliche Behandlung ermöglicht.

Beim Qi Gong bewegt sich der Körper in Harmonie.

Verschiedene Einflussfaktoren formen die Medizin

In der Gegenüberstellung der anatomischen Untersuchungen beider Medizinsystem zeigen sich deutliche Unterschiede. So ist der reduktionistisch analytische Ansatz der westlichen Medizin zu eigen. Im Gegensatz dazu steht der kontextuelle, nach Mustern suchende Ansatz der chinesischen Medizin. Beide Entwicklungen lassen sich gut an den anatomischen Untersuchungen aufzeigen, welche wesentlich durch kulturelle Eigenarten beeinflusst waren. Im Westen durch die christliche Kirche und in China durch den philosophischen Konfuzianismus. Neben diesen Einflussfaktoren gibt es noch weitere soziokulturelle Faktoren, welche die jeweilige Medizin geformt haben. Ganz wesentlich scheint dabei die Semantik und Semiotik der Sprache zu sein. Gute Beispiele sind hier die im Westen sehr abstrakte und in China die fast piktografische Schriftsprache. Insbesondere die chinesische Schrift begünstigt durch Bilder eine Kommunikation in Mustern und Zusammenhängen. Anders als die westliche Schriftsprache, welche das analytische Denken fördert. Einen nicht zu unterschätzenden Einfluss hatten natürlich auch Epidemien in Europa oder in China. Als Krisen führten sie zu wesentlichen Entwicklungen in der Medizin. In der westlichen Medizin ist hierfür ein Beispiel die Keimtheorie des Chemikers Louis Pasteur. Diese beschreibt, dass Erreger die Ursache für Erkrankungen sind und geht auf das Massensterben von Seidenraupen zurück. Davon abgeleitet ist es notwendig den Erreger zu bekämpfen und zu eliminieren.

Die Zang Xiang Theorie förderte einen anderen Ansatz in der chinesischen Medizin. Aufbauend auf dieser Theorie konzeptionierte beispielsweise der Arzt Ye Tian Shi das klinische Wissen, um Menschen, welche an Infektionserkrankungen litten, zu heilen. Diese Erkrankten weisen das Muster auf, dass sehr schnell viele Menschen erkranken, an ähnlichen Symptomen leiden und Beginnen zu fiebern. Dies führte zur sogenannten Wen Bing Schule auf welche viele Arzneirezepturen zurückgehen, welche heute noch erfolgreich angewendet werden können. So ermöglichte der Muster fokussierte Ansatz sehr schnell die Behandlung von Menschen, welche an Corona erkrankt waren.

Was sich somit in der Gegenüberstellung der beiden Medizinsystem zeigt, sie beschäftigen sich im Wesentlichen mit zwei medizinischen Fragestellungen:

  1. Warum werden Menschen krank?
  2. Wie lassen sich Erkrankungen heilen?

Im Kontext ihres Medizinsystems kommen sie so zu verschiedenen Antworten. Diese sind allerdings beide wertvoll, um Menschen zu helfen.

Die westliche Schriftsprache begünstigt analytisches Denken.
Die chinesischen Schriftzeichen sind fast schon bildhafte Darstellungen.

Ursprung der westlichen Medizin

Die chinesische Medizin und die Anatomie

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