Schmerzgedächtnis löschen und Akupunktur

Schmerzgedächtnis und Akupunktur

Das Gehirn verändert sich ein Leben lang. Dadurch wird es durch positive und negative Erfahrungen kontinuierlich beeinflusst. Gerade Schmerzen sind hierbei ein starker Reiz, um einen Lernprozess zu fördern und das Gehirn zu formen. Nicht wenige Menschen können sich daher noch daran erinnern, wenn sie das erste Mal auf eine heiße Herdplatte gefasst haben. Die Erfahrung führt in der Regel dazu, dieses Ereignis nicht zu wiederholen. Bei chronischen Schmerzen spielt dieser Lernprozess auch eine Rolle, so zumindest das Konzept des Schmerzgedächtnisses, welches beschreibt, wie chronische Schmerzen im Gehirn „erlernt“ werden. Diesbezüglich taucht häufig die Frage auf, ob das Schmerzgedächtnis mit der Akupunktur gelöscht werden kann. Im Folgenden mehr dazu.

Eine Verbrennung ist äußerst schmerzhaft und hat meist eine prägende Erfahrung.

Das Schmerzgedächtnis und die Humanmedizin

Gerade für Patienten mit chronischen Schmerzen ist das erwähnte Schmerzgedächtnis ein großes Thema. Die genauen Vorgänge werden von der Humanmedizin noch erforscht, es wird allerdings davon ausgegangen, dass chronische Schmerzen zu einer Veränderung im Gehirn führen – Nervenzellen lernen gewissermaßen Schmerz zu empfinden.

Meist handelt es sich bei diesen chronischen Schmerzen um zunächst milde und nicht sehr intensive Schmerzen. Hier unterbleibt häufig eine entsprechende sinnvolle Therapie, um auf dieses Warnsignal des Körpers zu reagieren. Dauern die Schmerzen an, kommt es zu einer Veränderung der Schmerzwahrnehmung. Anders ausgedrückt, je länger der Schmerz andauert, desto quälender wird er wahrgenommen. Die Schmerzschwelle sinkt und es kommt zu einer intensiveren und/oder häufigeren Schmerzwahrnehmung. Zusätzlich kann es sein, dass eigentlich nicht mit dem Schmerzreiz verknüpfte sensorische Wahrnehmungen wie Druck oder Wärme auf einmal den Schmerz auslösen können.

Als Folge können chronische Schmerzen einen großen Leidensdruck aufbauen. Wo vorher eine Bewegung ohne weiteres möglich war, kann es sein, dass durch die Sensibilisierung fast jede Bewegung Schmerzen auslöst. Damit nicht genug durch die Verbindungen der Nerven kann es auch zum sogenannten Übertragungsschmerz kommen. Dieser zeigt sich zum Beispiel in Pelzigkeit, Taubheit, gesteigerter Berührungsempfindlichkeit oder einem Kältegefühl in einer Extremität. Zusätzlich kann die motorische Steuerung beeinträchtigt sein, mit der Folge von Muskelverspannungen und Koordinationsstörungen.

Das Schmerzgedächtnis ist nach der Humanmedizin ein Hauptgrund, warum herkömmliche Therapiemaßnahmen wie Schmerzmittel bei chronischen Schmerzen nur bedingt eine Wirkung zeigen. Dies äußert sich darin, dass der Schmerz schnell wieder zurückkommt oder nicht mehr auf die Schmerzmedikamente reagiert.

Dieser Ansatz kann durchaus kritisch beurteilt werden, so schreibt die amerikanische Psychologin Maggie Phillips nach mehr als dreißig Jahren Berufserfahrung folgendes:

Mythos 1: Ich muss lernen, mit dem Schmerz zu leben – mehr kann ich nicht erreichen

Diese Überzeugung wird gewöhnlich durch Fachleute verstärkt, die an die grenzen ihres Wissens und dessen, was sie Ihnen empfehlen können, gekommen sind. (…) Denken Sie stets daran, dass es Hunderte von Schmerzlinderungsmethoden gibt. Zumindest einige dieser Methoden sind höchstwahrscheinlich jedem Arzt, der Schmerzen behandelt, unbekannt; doch eine davon könnte genau die richtige sein. (…) Geben Sie die Hoffnung nicht auf.

Das Schmerzgedächtnis ist im Sinne der Humanmedizin noch nicht gänzlich erforscht.

Das Schmerzgedächtnis und Akupunktur

Studien zeigen, dass die Akupunktur die Wirkung der Schmerzmedikamente wieder fördern kann. Außerdem wurde die Akupunktur seit ihren Ursprüngen als Schmerztherapie angewendet. Ihre Stärke liegt dabei darin, dass die Behandlung ganz wesentlich durch das persönliche Empfinden des Betroffenen beeinflusst wird. Wenn daher Schmerzen über einen langen Zeitraum bestehen, wird der Schmerzcharakter nach verschiedenen Kriterien differenziert. Die Fragen nach der Schmerzart, Qualität, Region, Intensität und welche Faktoren Linderung verschaffen, helfen dem Therapeuten, so ein umfassendes Behandlungskonzept zu erstellen. Dieses ist bei jedem Patienten individuell. Weitere Faktoren wie eine gesteigerte Berührungsempfindlichkeit oder eine Besserung der Schmerzen durch Wärme liefern dabei weitere wichtige Informationen für die Behandlung. Dies gilt für die Akupunktur als auch für Arzneirezepturen.

Die Fragestellung, ob der Schmerz im Sinne des Schmerzgedächtnisses vom Gehirn erlernt wurde, hat sich dabei innerhalb der chinesischen Medizin nicht gestellt. Viel entscheidender war, wie der Schmerz ursächlich behandelt werden kann. Hier gibt es aus der chinesischen Medizin als Erfahrungsmedizin viele Möglichkeiten auch neben der Akupunktur und Arzneirezepturen. Wobei die chinesische Medizin einen multimodalen Ansatz verfolgt und dies letztlich dem Ansatz, welchen Maggie Phillips empfiehlt, entspricht.

Grundsätzlich stellt sich auch die Frage, warum der Lernprozess, welcher dem Schmerzgedächtnis im Sinne der Humanmedizin zugrunde liegt, nur in eine Richtung betrachtet werden sollte. Etwas, was erlernbar ist, kann auch wieder vergessen werden, diese Erfahrung macht jeder Mensch in seinem Leben.

Ohne die Möglichkeit, etwas wieder zu verlernen, kommt das Konzept des Schmerzgedächtnisses der Humanmedizin fast einer negativen Prophezeiung gleich – Chronische Schmerzen sind erlernt und bleiben daher für immer bestehen.

Medizinisch ausgedrückt wird dadurch in negativer Weise ein Nocebo-Effekt ausgelöst. Anders als der meist bekannte Placebo-Effekt, beschreibt der Nocebo-Effekt, dass körperliche Beschwerden durch eine negative Erwartungshaltung ausgelöst werden können. Mit der Folge, dass durch die Erwartungshaltung, da ja das Gehirn die Schmerzen erlernt hat und die Behandlung somit nicht helfen kann, die Schmerzen nicht auf die Medikamente reagieren.

Die chinesische Medizin verfolgt hier einen anderen Ansatz. Schon in einem der ersten Grundlagenwerke zur Akupunktur wird diesbezüglich gesagt, dass auch chronische Beschwerden behandelt werden können:

Wenn die (…) Organe erkranken, ist das wie ein Dorn (…). Auch wenn ein Dorn schon lange drin steckt, kann er entfernt werden. Diejenigen, die sagen, dass eine alte Krankheit nicht geheilt werden könne, liegen falsch. Wer Nadeln gebraucht, sollte nach den Krankheitsursachen suchen. Dann kann der Dorn entfernt (…) werden und auch eine lange bestehende Krankheit ein Ende finden.

Gelben Kaiser der Inneren Medizin (黃帝內經 – Huangdi Neijing, ca. 80 v. Chr.)

Demnach löscht die Akupunktur nicht das Schmerzgedächtnis, sondern lindert nach wie vor den zugrunde liegenden Schmerz. Als Folge davon sinkt auch die Schmerzwahrnehmung. Da bei chronischen Schmerzen auch häufig die Emotionen eine Rolle spielen, betrachtet die chinesische Medizin auch die Psyche im Zusammenspiel mit Schmerzen. Der Mensch wird dadurch ganzheitlich behandelt.

Die Akupunktur ist schon lange eine Schmerztherapie.
  • Brunner, D (2015). Wirkung von Akupunktur bei chronischen Schmerzpatienten mit langfristiger Opioid-Einnahme (Inaugural – Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Medizin). Fakultät für Medizin der Universität Regensburg. https://epub.uni-regensburg.de/31909/1/endg%C3%BCltige%20Korrektur.pdf
  • Nobis H, Rolke R, Graf-Baumann T. (2020). Schmerz – eine Herausforderung, Springer Verlag
  • Opitz, Gerhard (2017). Schmerzen verstehen und bewältigen. Zuckschwerdt
  • Phillips, Maggie 2017). Chronische Schmerzen behutsam überwinden. Carl Auer LebensLust
  • Tiplt, A (2010). Schmerztherapie und Akupunktur: Eine interkulturelle Begegnung am Beispiel einer interdisziplinären Schmerzambulanz (Dissertation zum Erwerb des Doktorgrades der Medizin). Medizinischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität zu München. https://edoc.ub.uni-muenchen.de/12032/1/Tiplt_Ana_Lucia.pdf
  • Vickers, A. J., Vertosick, E. A., Lewith, G., MacPherson, H., Foster, N. E., Sherman, K. J., Irnich, D., Witt, C. M., Linde, K., & Acupuncture Trialists‘ Collaboration (2018). Acupuncture for Chronic Pain: Update of an Individual Patient Data Meta-Analysis. The journal of pain, 19(5), 455–474. https://doi.org/10.1016/j.jpain.2017.11.005
  • Wang, J; Robertson, J (2014): Die Anwendung der chinesischen Meridianlehre in der Praxis. Aus d. Engl. v. Koppensteiner, David. Schiedlberg: Bacopa Verlag
  • Witt, C. M., Vertosick, E. A., Foster, N. E., Lewith, G., Linde, K., MacPherson, H., Sherman, K. J., Vickers, A. J., & Acupuncture Trialists’ Collaboration (2019). The Effect of Patient Characteristics on Acupuncture Treatment Outcomes: An Individual Patient Data Meta-Analysis of 20,827 Chronic Pain Patients in Randomized Controlled Trials. The Clinical journal of pain, 35(5), 428–434. https://doi.org/10.1097/AJP.0000000000000691