Wer war Dr Wang Ju-Yi?
Wang Ju-Yi war ein Arzt aus Beijing und gilt als Begründer der Leitbahntherapie. Er gehörte zum ersten Studiengang des Beijinger Kolleges für Chinesische Medizin und lernte damals unter bekannten Ärzten wie Qin Bo Wei und Wang Le Ting.
Im Laufe seiner fast fünfzigjährigen Arbeit als Akupunkteur und Professor stellte er fest, dass die Ausbildung in chinesischer Medizin sich nur sehr oberflächlich mit den klassischen Quellen der Medizin beschäftigt. So werden nach Dr. Wang in der modernen Akupunkturliteratur die tieferen Prinzipien aus den Grundlagenwerken der chinesischen Medizin nicht erörtert oder nur oberflächlich erwähnt.
Doktor Wang entwickelte deshalb die Leitbahntherapie. Sie fußt auf den Grundlagenwerken der chinesischen Medizin und auf Doktor Wangs langjähriger Erfahrung als Akupunkteur. Er arbeitete zeit seines Lebens in der Praxis und auch mit achtzig Jahren sah er noch regelmäßig Patienten.
Worum geht es bei der Leitbahntherapie?
Bei der Leitbahntherapie geht es um die Anwendung der chinesischen Leitbahnlehre in der Praxis. Die Leitbahnlehre ist dabei ein – der chinesischen Medizin – eigenes Konzept, welches sowohl die Physiologie, als auch die Entstehung von Erkrankungen und die Behandlung von Krankheiten umfasst. Die Meridiane oder Leitbahnen sind dabei ein System, das bestimmte Körperbereiche vernetzt und zu einem holistischen Ganzen zusammenfügt.
Um zu verdeutlichen was, Leitbahnen sind, ist ein Beispiel hilfreich: Auf der Erde existieren Klimazonen. Diese erstrecken sich in Ost-West-Richtung gürtelförmig um die Erdkugel und haben unterschiedliche klimatische Begebenheiten. Eine dieser Klimazonen ist die subtropische Zone. In dieser Zone liegen die Länder am Mittelmeerraum, Südafrika, Südwestaustralien und einige weitere. Obwohl es sich um sehr unterschiedliche Länder handelt, werden sie – da sie ein ähnliches Klima aufweisen – unter dem Begriff der „subtropischen Klimazone“ zusammengefasst.
Zurück zu den Leitbahnen. Bei ihnen ist es ähnlich wie bei den Klimazonen. Eine Leitbahn fasst Bereiche am Körper zusammen, die Gemeinsamkeiten besitzen und dennoch sehr unterschiedlich sein können. Eine entscheidende Gemeinsamkeit kann beispielsweise sein, dass die Akupunkturpunkte eines Bereiches einen Einfluss auf die Atmung haben, wodurch der Lungen-Leitbahn entsteht. Eine andere Leitbahn fasst hingegen andere Funktionen und Bereiche zusammen, sodass sie die Dickdarm-Leitbahn bildet. Es lässt sich also festhalten, dass Leitbahnen mit unterschiedlichen Funktionen existieren.
Ein Unterschied in dem Beispiel der Klimazonen und der Leitbahnen ist die Ausrichtung im Raum. Die Klimazonen bilden sich gürtelförmig um die Erdkugel, wohingegen die meisten Leitbahnen so ausgerichtet sind, dass sie sich von den Fingern und Zehen zum Rumpf oder Kopf erstrecken. Häufig werden sie dann zur Vereinfachung als eine Linie auf dem Körper dargestellt. Dieses Bild ähnelt der Ausrichtung des menschlichen Nerven-und Blutsystems.
Doktor Wangs Verständnis der Leitbahnen geht über die Systeme des Nerven- und Blutsystems hinaus. In den Klassikern der chinesischen Medizin verbindet das Leitbahnsystem die inneren Organe miteinander, ebenso wie das Körperinnere mit der Körperoberfläche. Es fasst den Körper zu einem ganzheitlichen System zusammen.
Es vereint und umfasst außerdem die übrigen Körpersysteme wie Lymph-, Nerven-, Hormon- und Blutsystem. Dabei haben die Leitbahnen mehrere Aufgaben. Sie versorgen den Körper, tauschen Informationen aus und sind Pfade für Erkrankungen. Dieses Wissen für die Behandlung von Menschen zu nutzen, ist der Ansatz der Leitbahntherapie.
Wie wird die Leitbahntherapie in der Praxis angewendet?
Um diese Frage zu beantworten ist ein abermaliger Rückgriff auf das Beispiel der Klimazonen notwendig. Das Wetter wird nicht nur von der subtropischen Klimazone bestimmt, sondern gleichzeitig von allen anderen Klimazonen beeinflusst. Für die Entstehung von Umweltkatastrophen ist dies sehr wichtig. Der Grund für das Abschmelzen der Polkappen entsteht nicht an den Polkappen selbst, sondern er wird in den anderen Klimazonen verursacht. Im Leitbahnsystem ist es ähnlich. Die Leitbahnen beeinflussen sich. Aufgabe des Therapeuten ist es daher bei Erkrankungen, die ursächliche Leitbahn zu finden und über die Akupunktur zu regulieren. Anders als in der heutigen symptomatischen Auswahl von Akupunkturpunkten – für zum Beispiel seitlichen Kopfschmerz mit einem intensiven Schmerzcharakter – geht es in der Leitbahntherapie um eine tiefergehende Regulierung des Leitbahnsystems und der Behandlung der Wurzel einer Erkrankung. Dieser Anspruch ist dabei so alt, wie die chinesische Medizin selbst. So findet sich schon in einem der Grundlagenwerke folgender Satz:
„Wer Nadeln gebraucht, sollte nach der Krankheitsursache suchen“
Eine Hilfe um die ursächliche Leitbahn zu finden, ist die Palpation der Meridiane. Dabei geht es um das Ertasten von strukturellen Veränderungen im Leitbahnverlauf. Die Leitbahnen umfassen, wie vorher beschrieben, bestimmte Hautareale, Muskeln, Gefäße, Nerven und Organe. Veränderungen im Gewebe in Form von Knötchen oder Schmerzen weisen somit auf bestimmte Leitbahnen hin. Diese Technik wird Leitbahnpalpation genannt. Sie ist sowohl in der Diagnose hilfreich, als auch in der Therapie. Aus den Veränderungen in den Leitbahnen in Verbindung mit den anderen, über die Anamnese gewonnen Informationen, ergibt sich so ein ganzheitliches Bild des Menschen. Über die gezielte Auswahl spezifischer Akupunkturpunkte kann so das Leitbahnsystem ursächlich reguliert werden.
Zusammenfassend lässt sich also sagen, die Leitbahntherapie ist eine – den klassischen Quellen der chinesischen Medizin entsprungene und durch die Erfahrung des Therapeuten – geschärfte Therapie, welche ursächlich Erkrankungen behandelt und dabei den Menschen in den Mittelpunkt stellt.
- Wang Ju-Yi; Robertson, Jason D. (2014): Die Anwendung der chinesischen Meridianlehre in der Praxis. Aus d. Engl. v. Koppensteiner, David. Schiedlberg: Bacopa Verlag
- Bing, Wang (762): Yellow Emperor´s Canon of Internal Medicine, translated by Wu Liansheng, Wu Qi, China Science & Technology Press, 1996