Das biospsychosoziale Modell und die chinesische Medizin

Ein ganzheitliches Erklärungsmodell des Menschenseins

Das biopsychosoziale Modell beruht auf den Arbeiten der Allgemeinen Systemtheorie und deren Anwendung auf die Biologie. Es bietet tatsächlich einen ganzheitlichen Ansatz, um im Sinne der Medizin das Zusammenspiel zwischen Körper und Seele zu erklären. Körper und Seele können hier moderner ausgedrückt mit Gehirn und Geist ersetzt werden. Es hat außerdem viele Überschneidungspunkte mit der chinesischen Medizin. Mehr dazu im Folgenden zunächst abstrakt und dann konkret.

Nach der Systemtheorie ist es möglich, die Natur, die Gesellschaft und den Körper in einem hierarchischen System zu beschreiben. Dieses System verfügt über verschiedene Subsysteme, welche für sich organisiert sind und unterschiedliche Phänomene aufweisen. Wichtig ist dabei zu beachten, dass obwohl die Struktur hierarchisch ist, die Subsysteme sich gegenseitig beeinflussen. Gleichzeitig ist es dabei so, dass bestimmte Phänomene nur in einem bestimmten Subsystem entstehen. Das darunter liegende Subsystem kann daher diese Phänomene nicht ausreichend beschreiben, bedingt diese aber.

Die Systemhierarchie umfasst neben der Umwelt auch den Menschen.

Auswirkungen des biopsychosozialen Modells auf die Medizin

Konkreter wird dies insbesondere in der Betrachtung einer Person und deren physiologischen und emotionalen Verhalten. Innerhalb dieses Subsystems verbindet sich, das was als Körper und Seele bezeichnet wird und fungiert als Einheit. Im Sinne des biopsychosozialen Modells wird das emotionale Verhalten im Wesentlichen durch die Gesellschaft geprägt. Gleichzeitig wird das Gehirn mit seinen Nervenverschaltungen benötigt, um diesen Einfluss auf den Körper mit seinen Subsystemen zu übertragen. Allerdings kann eine ausschließliche Betrachtung der Organe oder Gewebe das Phänomen der Bewusstseinstätigkeit ohne die Berücksichtigung der Gesellschaft nicht erklären. Es lässt sich festhalten, dass selbst eine sehr genaue Analyse eines Subsystems keine Erklärung für ein Phänomen eines höher gelegenen Subsystems liefern kann. So ist beispielsweise das Subsystem der Organe nicht in der Lage, psychiatrische Erkrankung ausreichend sprachlich zu greifen, da die Krankheitsbeschwerden auf der Ebene der Person (Physiologie und Empfinden) stattfinden. Hier liegt tatsächlich auch eine wesentliche Kritik an der Humanmedizin mit ihrem Fokus auf der Molekularbiologie. Wobei diese Kritik grundlegend für die Entstehung des biopsychosozialen Modells nach Engel war.

Die Gesellschaft hat einen wesentlichen Einfluss auf das persönliche empfinden.

Gesundheit und Krankheit im biopsychosozialen Modell

Im Sinne des biopsychosozialen Modells sind Erkrankungen weder ausschließlich körperlich bedingt noch ausschließlich psychisch bedingt. Viel mehr findet Gesundheit und Krankheit in der unmittelbaren Wechselwirkung zwischen diesen zwei künstlich geschaffenen Polen statt. Eine weitere Schlussfolgerung aus diesem Modell ist daher ein erweitertes Verständnis von Gesundheit und Krankheit als regulativ fließender Prozess.

Gesundheit und Krankheit sind im biopsychosozialen Modell ein fließender Prozess.

Eine umfassende Behandlung setzt dabei auf drei Ebenen an, um die regulativen Kräfte des Organismus zu stärken. Zum einen tritt eine Erkrankung immer im Körper auf, daher muss dieser berücksichtigt werden. Hier setzen Medikamente, aber auch manuelle Anwendungen wie die Akupunktur an. Gleichzeitig ist eine körperliche Erkrankung auch immer mit einem psychoemotionalen Erleben verknüpft. Somit sollte auch diese Ebene in der Behandlung mit beispielsweise aufmerksamkeitsbasierter Stressreduktion oder Psychotherapie berücksichtigt werden. Beide Ebenen und Behandlungsansätze greifen dabei nahtlos ineinander und können nicht getrennt werden. Neben dem körperlichen und emotionalen Erleben hat eine Erkrankung auch eine Auswirkung auf das soziale Netz, im weitesten Sinne sogar auf die Umwelt. Wenn beispielsweise das haupterwerbstätige Elternteil erkrankt, hat dies auch wirtschaftliche Folge für die Familie. Insofern hat die Erkrankung der einen Person auch Auswirkungen auf weitere. Die Subsysteme können sich dabei gegenseitig beeinflussen. So hat beispielsweise der gesellschaftliche oder familiäre Umgang mit Genussmitteln ganz wesentlich einen Einfluss darauf, wie das Individuum Alkohol nutzt. Die Spannweite reicht dabei von totaler Abstinenz bin hin zur Anwendung als Betäubungsmittel mit den entsprechenden körperlichen Folgen. Entsprechend sollte auch diese Ebene in einer Behandlung berücksichtigt werden.

Eine Behandlung im Sinne des biopsychosozialen Modells sollte verschiedene Ebenen haben.

Die chinesische Medizin und das biopsychosoziale Modell

In der Betrachtung der chinesischen Medizin und des biopsychosozialen Modells fällt auf, dass sie eine sehr große inhaltliche Schnittmenge aufweisen. Dies beginnt bei der Systemhierarchie, welche beschreibt, dass die Umwelt eng mit der Gesellschaft und dem Individuum verknüpft ist. Eine grundlegende Annahme in der chinesischen Medizin. Es betrifft aber auch Begriffe wie Gesundheit und Krankheit, welche annähernd deckungsgleich sind. Ein wesentlicher Unterschied ist allerdings die verwendete Sprache, um die Modelle in Worte zu fassen.

So umfassend das biopsychosoziale Modell ist, so sehr besteht in der westlichen Sprache die Schwierigkeit, die Phänomene im Subsystem der Person zu beschreiben. Dies ist allerdings eher ein wissenschaftliches Problem, denn viele Redensarten beschreiben letztlich treffend, was im Subsystem der Person passiert. Exemplarisch zeigt sich an der Phrase „Stress schlägt mir auf den Magen“ dass Emotionen einen unmittelbaren Einfluss auf den Körper haben können. Der emotionale Anteil von Stress zeigt an, dass die betroffene Person beispielsweise nicht in der Lage ist, der Arbeitsbelastung standzuhalten. Dies beeinträchtigt die regulativen Fähigkeiten des Organismus, was zu einer Erkrankung führt. Eine reine Betrachtung des entstehenden Magengeschwürs würde demnach therapeutisch zu kurz greifen.

Der Grund für das wissenschaftliche Problem liegt daher darin, dass die verwendeten Begrifflichkeiten im Wesentlichen aus dem darunter liegenden Subsystem der Organe stammt und Emotionen hier keine ausreichende Beschreibung erfahren können. So kann zwar im organischen Subsystem beschrieben werden, welches Gehirnareal beispielsweise reagiert, wenn ein Mensch Wut fühlt und diese ausdrückt. Der eigentliche Inhalt der Wut (Stress mit dem Partner oder ein Konflikt auf der Arbeit) bleibt auf dieser Ebene aber verborgen.

Die Sprache des Subsystems der Organe kann nicht Phänomene der Person erklären.

Die chinesische Schriftsprache hat diese Problematik weniger, da die Schriftzeichen auf ein seelisches Empfinden als auch auf den körperlichen Aspekt hinweisen können. An den Zeichen für einen Wutanfall 怒火 (Nùhuǒ) lässt sich dies gut aufzeigen. Das linke Zeichen beinhaltet dabei das Zeichen für Herz 心 (Xīn), als auch für Sklave 奴 (Nú). Es weist somit zum einen darauf hin, dass die Organe betroffen sind (Herz), als auch auf die mögliche Ursache für den Wutanfall, wie ein Sklave behandelt zu werden. Das rechte Zeichen stellt ein Feuer da 火 (huǒ) und zeigt somit an, welche Kraft ein Wutanfall haben kann, zugleich aber auch, wie sich ein Wutanfall im Körper anfühlt. Insofern scheint die chinesische Schriftsprache ein Denken im biopsychosozialen Modell zu vereinfachen. Somit ist es abschließend nicht verwunderlich, dass hier eine große Schnittmenge zur chinesischen Medizin besteht. Dies zeigt sich insbesondere in der Schmerztherapie der chinesischen Medizin als multimodale Behandlung.

Ein ganzheitliches Erklärungsmodell des Menschenseins – Gesundheit und Krankheit im biopsychosozialen Modell – Auswirkungen des biopsychosozialen Modells auf die Medizin

  • Egger, J. W. (2015). Das biopsychosoziale Krankheits- und Gesundheitsmodell: Von der klassischen Psychosomatik zur biopsychosozialen Medizin. In J. W. Egger, Integrative Verhaltenstherapie und psychotherapeutische Medizin (S. 53–83). Springer Fachmedien Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-06803-5_3
  • Engel, G. L. (1959). Psychogenic pain and pain-prone patient. The American journal of medicine, 26(6), 899–918. https://doi.org/10.1016/0002-9343(59)90212-8
  • Engel, G. L. (1977). The need for a new medical model: a challenge for biomedicine. Science (New York, N.Y.), 196(4286), 129–136. https://doi.org/10.1126/science.847460

 

Die chinesische Medizin und das biopsychosoziale Modell